Karlsruhe (ddp). Enge Angehörige, die enterbt worden sind, können bei der Auszahlung einer Lebensversicherung des verstorbenen Erblassers künftig auf mehr Geld hoffen als bisher. Denn der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe änderte am Mittwoch seine seit Jahrzehnten geltende Rechtsprechung zur Berechnung des Anspruchs auf eine Ergänzung des «Pflichtteils» – also des Anteils am Vermögen eines Verstorbenen, der enterbten nächsten Angehörigen mindestens zusteht.
Umstritten war bislang, ob ein enterbter «Pflichtteilsberechtigter» seine Ansprüche auf Grundlage der vollen Versicherungssumme («Todesfallleistung») oder der – niedrigeren – Summe der vom Erblasser zu seinen Lebzeiten gezahlten Prämien geltend machen konnte. Der BGH hatte diese Frage seit einer Entscheidung des Reichsgerichts von 1930 so beantwortet, dass lediglich die Prämiensumme entscheidend sei. Diese Rechtsprechung gab der BGH jetzt auf und fand einen Mittelweg: Berechnungsgrundlage sei in aller Regel der «Rückkaufswert» der Lebensversicherung in der letzten – juristischen – Sekunde des Lebens des Erblassers.
Der Rückkaufswert ist normalerweise höher als die Prämiensumme, aber deutlich niedriger als die «Todesfallleistung». Damit trat der BGH einer Tendenz in der Rechtsliteratur und Rechtsprechung entgegen, die bei der Berechnung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs auf die gesamte Versicherungsleistung abstellen wollte.
Das Urteil wird laut BGH «neben der rechtlichen Bedeutung auch erhebliche wirtschaftliche und praktische Wirkung» haben. Denn die in Deutschland in Lebensversicherungsverträge investierten Beträge lägen im Milliardenbereich. Zugleich sei die «widerrufliche Einräumung von Bezugsrechten» ein weit verbreitetes Mittel bei der Nachlassgestaltung. Ein an dem Verfahren beteiligter Anwalt sprach in einer Verhandlungspause von einem «Massenphänomen».
In einem entschiedenen Fall klagte der einzige Sohn des verstorbenen Erblassers gegen seinen Onkel. Der Erblasser hatte nämlich für den Fall seines Todes seinen eigenen Bruder als Alleinerben und als Bezugsberechtigten einer Lebensversicherung eingesetzt. Seinen Sohn berücksichtigte er nicht. Wörtlich hatte der Erblasser geschrieben: «Mein Sohn kriegt nichts. Alles soll mein lieber Bruder bekommen.» In einem zweiten Fall klagten Söhne des Erblassers aus dessen erster Ehe gegen seine zweite Ehefrau, die er als Alleinerbin eingesetzt hatte. Die Kläger waren jeweils der Ansicht, der Berechnung ihres Anspruchs sei die gesamte von der Versicherung ausgezahlte Todesfallleistung zugrunde zu legen.
Mit Blick auf nun generell geforderte Ermittlung des Rückkaufswerts einer Lebensversicherung hatte ein Anwalt der Streitparteien den BGH gemahnt, die mögliche Vorgehensweise im Falle von todgeweihten Menschen – etwa schwer Krebskranken – nicht auszublenden. Der Bundesgerichtshof betonte daraufhin in seinem Urteil, die «schwindende persönliche Lebenserwartung» eines Erblassers dürfe bei der Wertermittlung nicht in die Bewertung einfließen.
(AZ: IV ZR 73/08 und IV ZR 230/08 – Urteil vom 28. April 2010)
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