– von Michaela Kaebe – Angeblich leben wir in einer Ausgehgesellschaft. Tatsächlich aber findet ein großer Teil des öffentlichen Lebens in den eigenen vier Wänden statt, sagt der Berliner Trendforscher Axel Venn. Bekannt geworden ist dieser Effekt unter dem Begriff Homing. „Homing ist – ähnlich wie Cocooning – ein Begriff für Rückzug. Sind die eigenen vier Wände im Cocooning ein Ort, an dem man sich von der Welt abkapselt, so beschreibt Homing eine erweiterte soziale und kommunikative Öffnung des eigenen Zuhauses: Es gibt mir Sicherheit und zeigt wie ich bin – aber ich lasse auch andere Menschen hinein, habe gern Freunde zu Gast“, beschreibt es die Frankfurter Innenarchitektin Beate Descher.
Mehr Platz für Gäste
Das prägt auch die Einrichtung: „Für gemeinsame Spieleabende oder Essen mit Freunden braucht man eine andere Tischform als für das Essen im Familienkreis. Und wer gerne mit Freunden kocht, braucht eine Küche mit mehr Platz, eine Wohnküche oder eine offene Küche“, sagt Descher. Auch Unterhaltungselektronik sei wichtig, wenn Club- und Kinobesuche durch Abende zu Hause ersetzt werden. Und man brauche mehr und andere Sitzgelegenheiten: „Ecksofas waren lange verpönt – heute sind sie wieder da und größer denn je.“ Typischerweise seien sie eher zum Hineinkuscheln als zum ordentlichen Sitzen geeignet und für viele Leute ausgelegt.
Gemütlichkeit im Mittelpunkt
Die gestiegende Nachfrage nach Fellen, sei ebenfalls kennzeichnend für das Homing: „Felle sind warm, weich und atavistisch“, sagt Axel Venn, der an der Hochschule Hildesheim die Professur für Farbgestaltung und Trendscouting innehat. Auch die Abkehr von allzu klaren Linien gehört für den Trendforscher zu diesen Atavismen: „Menschen mögen keine scharfen Ecken, sie suchen Dinge, die sie streicheln können, und das sind runde Formen.“ Ein Schlüsselwort ist für ihn „Gemütlichkeit“: „Es geht um Dinge, die das Gemüt ansprechen. Es geht nicht um Status, nicht um Glanz und Glamour, sondern um Empathie. Alles ist gemütlich, einladend, und der Mensch steht im Mittelpunkt“, sagt der Experte. Das äußere sich auch in den Farben: „Homing bedingt eine Abkehr von den Unfarben Schwarz und Weiß zu den Farben der Geborgenheit“, sagt er. Also Cremetöne, Gold und Goldbraun, Rottöne mit hohem Gelbanteil. Auch der Verzicht auf starke Kontraste sei typisch: „Alles ist harmoniebetont.“
Grenzen verwischen
Nicht nur die Grenzen zwischen Heim und Außenwelt werden durchlässiger, auch Begrenzungen zwischen den Lebensräumen sind inzwischen weniger starr, beobachtet Innenarchitektin Beate Descher: „Schlaf- und Badezimmer werden kombiniert, genau wie Küche und Wohnraum. Das Arbeiten wird mehr ins Wohnen einbezogen, und Außenbereiche wie Balkon oder Garten werden stärker als früher ins Wohnen integriert.“ Das zeige sich auch darin, dass Wintergärten wieder gefragt seien, ergänzt Venn. Auch der Garten oder Balkon werde zum Treffpunkt für Freunde.
Und im Haus änderten sich die Funktionen einiger Bereiche, sagt Descher: „Der Flur ist nicht der Windfang, in dem man die schmutzigen Schuhe abstellt, sondern der erste Empfangsbereich im Haus. Ess- und Wohnzimmer nehmen mehr Raum ein und werden interessanter gestaltet.“ Auch die ehemals streng privaten Bereiche seien nicht mehr völlig abgeschirmt: „Man zeigt sein Heim gerne, auch das Schlafzimmer.“
Heimat als Trend
Menschen seien immer hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, in die Ferne zu schweifen, und dem nach Heimatlichkeit, sagt Trendforscher Venn. „Im Moment überwiegt das Heimweh. Damit geht auch eine Rückbesinnung auf die eigenen Archetypen einher, heimische Folklore wird ein Riesen-Thema werden.“ Statt eines Buddhas stelle man sich lieber Gartenzwerge auf den Rasen: „Die Zeit der importierten Wohninszenierungen ist vorbei.“ Auch Geweihe und Kuckucksuhren an den Wänden seien Kult, ebenso wie karierte Tischdecken oder Blümchentapeten: „Es findet eine Neuinterpretation des Ursprünglichen statt“, sagt der Experte.
Dazu passt, dass heimische Hölzer im Trend liegen. Die „Homer“ seien eher für Eichendielen zu haben als für Mahagoniparkett. Was natürlich auch eine ökologische, ressourcenschonende, also ethische Komponente habe: „Ethische Normen spielen eine wichtige Rolle, Ethik ist ein Statusprodukt geworden“, sagt Venn. Doch diese Ethik habe nichts mit Verzicht zu tun: „Homing ist ein Lebensgefühl, das Askese total ablehnt.“
dapd/mka/kat